Notizen aus der
Wissenschaft:
Stichwort:
Sinne
Sinne
11.04.2011 - Hirnforschung
Erlerntes Teamwork
Kopplung von Tastsinn und Sehsinn ist
nicht angeboren
Auch Sehen will gelernt sein: Die Fähigkeit,
eine erfühlte Form auf einen Blick zu erkennen, ist nicht
angeboren, sondern muss erworben werden. Das hat ein internationales
Forscherteam jetzt erstmals direkt nachweisen können.
Die Gruppe arbeitete dazu mit einer Stiftung zusammen, die
sich um kranke Kinder in Indien und anderen Entwicklungs-
und Schwellenländern kümmert. Fünf dieser Kinder
stellten sich nun für die Untersuchung zur Verfügung:
Sie waren von Geburt an blind gewesen, erlangten jedoch durch
eine Operation ihr Augenlicht zurück und nahmen direkt
nach der erfolgreichen Behandlung an den Tests der Forscher
teil. Keiner der Patienten habe beim ersten Anschauen erkennen
können, welchen Legostein er zuvor bereits ertastet hatte,
resümieren die Forscher die Ergebnisse. Bereits nach
wenigen Tagen hatte sich die Kopplung zwischen Tast- und Sehsinn
jedoch ausgebildet, schreiben Richard Held vom Massachusetts
Institute of Technology (MIT) und seine Kollegen.
Bereits vor mehr als 300 Jahren hatte
die Frage, ob ein Blinder eine Kugel optisch von einem Würfel
unterscheiden kann, wenn er plötzlich sein Sehvermögen
zurückerlangt, den irischen Philosophen William Molyneux
beschäftigt. Und obwohl das Molyneux-Problem seitdem
immer wieder diskutiert und untersucht wird, habe bisher keine
zufriedenstellende Antwort gefunden werden können, erläutern
Held und seine Kollegen - unter anderem, weil es so schwierig
ist, geeignete Probanden zu finden. Jetzt erhielten sie im
Rahmen des Prakash-Projektes, das sich für die Behandlung
kranker Kinder in Indien einsetzt, die Gelegenheit, fünf
junge Patienten im Alter zwischen 8 und 17 Jahren zu untersuchen.
Vier von ihnen litten seit ihrer Geburt in beiden Augen an
Grauem Star, einer starken Trübung der Augenlinse. Sie
wurden operiert und bekamen künstliche Linsen eingesetzt.
Bei dem fünften Kind waren, ebenfalls von Geburt an,
die Hornhäute in beiden Augen geschädigt. Es erhielt
eine Hornhauttransplantation.
Keiner der Patienten konnte vor der Behandlung
mehr als hell und dunkel unterscheiden, nach den Eingriffen
war jedoch der größte Teil des Sehvermögens
wiederhergestellt. Die Wissenschaftler testeten die Kinder
innerhalb der ersten 48 Stunden nach der Operation. Sie gaben
ihnen dazu einen auffallend geformten großen Legostein
in die Hand, dessen Form sie ertasten sollten. Anschließend
zeigten sie den Testteilnehmern zwei Steine und ließen
sie angeben, welcher dem zuvor erfühlten entsprach. Die
Kinder lagen lediglich in 58 Prozent der Fälle richtig,
zeigte die Auswertung, ein Wert, der kaum über dem liegt,
der beim zufälligen Raten erzielt wird. Fünf Tage
später schnitten die Kleinen mit zum Teil über 90
Prozent Trefferquote dagegen bereits deutlich besser ab.
Es gibt also offenbar kein angeborenes
Konzept von Raum und Form, das unabhängig von den Sinneswahrnehmungen
entsteht und über jeden Sinn zugänglich ist, schließen
die Forscher aus dem Ergebnis. Vielmehr scheint das Raumkonzept
erst durch Erfahrung zu entstehen, die sich wiederum aus dem
Input mehrerer Sinne zusammensetzt. Allerdings müssen
die neuronalen Voraussetzungen für die Bildung des Konzeptes
bereits vorhanden sein, sonst hätten die Kinder nicht
so schnell lernen können, sagen die Wissenschaftler.
Dass es sich bei dem Kartieren räumlicher Zusammenhänge
nicht um einen festgelegten, sondern um einen dynamischen,
erfahrungsabhängigen Prozess handelt, erscheine dabei
durchaus sinnvoll - schließlich verändert sich
der Körper und damit auch die Bedeutung der Signale des
Tastsinns im Lauf des Lebens.
Richard Held (MIT) et al.: Nature Neuroscience,
Online-Vorabveröffentlichung, doi: 10.1038/nn.2795
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