Die Bedeutung frühkindlicher
Reflexe in der (kinder-) ärztlichen Praxis
von Dr. med Carsten Queißer, Kinderarzt
in Bad Harzburg (D) und Mitglied bei win future, einer Initiative
für Bildung und Entwicklung.
Reflexe sind unbewusste, immer gleiche Reaktionen des Organismus
auf Reize (Körper- oder Umweltreize). Sie unterliegen
keinen Variationen. Sie dienen der Entwicklung, dem Schutz
und der Vorbereitung auf weitere Entwicklungsschritte. Bereits
in der 6.Schwangerschaftswoche lässt sich ein Fluchtlähmungsreflex
auf Erschütterungen nachweisen. Der Schwangerschafts-
und der frühkindliche Verlauf sind durch einen bestimmten
Ablauf an auftretenden Reflexen gekennzeichnet. In der Schwangerschaft
sind sie für die Bewegungen des Ungeborenen verantwortlich.
Die Lage des Foeten, die Verhinderung von Nabelschnurumschlingungen
sowie letztlich auch der Geburtsverlauf sind durch Reflexe
geregelt. Die intrauterinen Bewegungen, welche als „general
movements“ auch ihren Eingang in die vorgeburtliche
Diagnostik finden, bereiten erste synaptische Verbindungen
im Großhirn vor. Die Reflexe haben ihren Sitz im Stammhirn,
der phylogenetisch ältesten Gehirnregion. Sämtliche
Reize von oder ins Mittel- oder Großhirn sind nur über
das Stammhirn zu vermitteln. Die Reizleitung erfolgt über
synaptische Nervenverbindungen.
Die Verknüpfungen dieser synaptischen Verbindungen erfolgt
über wiederkehrende Reize. Bei der Geburt sind zwar nahezu
alle Nervenzellen gebildet, jedoch nur wenige synaptische
Verbindungen im Großhirn, welches für die bewussten
Handlungen steht, vorhanden. Dies ändert sich im Verlauf
der ersten zwei Lebensjahre, in welchem ein rasanter Zuwachs
der Verbindungen zu verzeichnen ist. Durch wiederkehrende
Reize und vor allem sich wiederholende Bewegungen werden diese
Verbindungen geschaffen. Auch im weiteren Leben findet eine
ständige Anpassung über Abbau alter Verbindungen
und Bildung neuer Verbindungen statt.
Den fehlenden Verbindungen und damit den nicht möglichen
bewussten Bewegungen der ersten Lebensmonate hat die Natur
Rechnung getragen dahingehend, dass die Reaktion auf Reize
vor allem in den ersten 4 Lebensmonaten durch Reflexe gesteuert
ist. Diese Reflexe sind gut bekannt und nehmen bis zur Vorsorgeuntersuchung
U6 einen großen Teil der Untersuchung ein.
(zum Vergrößern einfach auf Grafik klicken)
Mit zunehmendem Alter sind die initial sehr wichtigen und
erforderlichen Reflexe dann durch übergeordnete Zentren
abzulösen und sollen selbst abgebaut oder soweit zurückgedrängt
sein, dass keine Beeinflussung des Groß- und Mittelhirn
gesteuerten Handelns und Verarbeitens stattfindet. Einige
Reflexe sollen aber auch bestehen bleiben, wie z.B. die Sprungbereitschaft
und Gleichgewichtsreaktionen. Letztere Reflexe sind hier natürlich
nicht gemeint, da sie weiterhin sehr wichtig sind und andere
Bereiche der Motorik und Sensorik nicht beeinflussen.
Ohne näher auf die Darstellungen einzugehen, zeigen
sie eine langsame Übernahme der übergeordneten Strukturen
Mittel- und Großhirn in der Handlungsplanung. Was passiert
aber, wenn die Reflexe, welche zu einem bestimmten Zeitpunkt
gehemmt oder abgebaut sein sollen, nicht oder nicht ausreichend
gehemmt oder abgebaut sind? Warum gehen wir in der Schulmedizin
davon aus, dass der Reflexablauf entweder völlig richtig
verläuft oder aber, wie bei Schwerstbehinderten, nach
Schlaganfall (oder anderen Ursachen für ein Aussetzen
der Großhirnfunktion), die Stammhirnreflexe vollständig
vorhanden sind? Diese Frage stellt sich vor allem dadurch,
da der Ablauf von Reflexauftreten und Reflexhemmung durch
viele Faktoren beeinflussbar ist und durch ein mehr oder weniger
feines System aus Bewegungen, Häufigkeiten der Auslösung
sowie Phasen gekennzeichnet ist, in welchem die Reflexe ausgelöst
werden müssen, um nachfolgend gehemmt werden zu können
(sog. „sensible Fenster“).
Alleine durch die Auswirkung auf die Sinne ließe sich
eine starke Wirkung der pathologisch nicht gehemmten Reflexe
(ab jetzt meist nur noch kurz „Reflexe“ genannt)
vermuten. Beispielhaft seien hier aus unten stehender Graphik
der Mororeflex und der Asymmetrischetonische Nackenreflex
(ATNR) ausgewählt: Der Mororeflex, auch Schreckreflex
genannt, hat Auswirkungen auf das vestibuläre, das taktile,
das auditive, das visuelle und das olfaktorische System. Durch
die Schreckreaktion werden nahezu alle Sinne stark gesteigert,
was eine adäquate Reaktion, Wahrnehmung und Reizverarbeitung
unmöglich macht. Durch die Auswirkungen eines persistierenden
ATNR lägen vestibuläre, auditive sowie auch visuelle
(in der Graphik leider nicht eingezeichnet) Beeinträchtigungen
vor. Bei Bewegungen des Kopfes über die Mittellinie würde
eine Auslösung des ATNR erfolgen und damit Gleichgewicht,
Augenfolgebewegungen und Sehen sowie auch das Richtungshören
beeinträchtigen.
Dies sind aber nicht die einzigen Auswirkungen der „Reflexe“.
Aufgrund der Auswirkungen auf Motorik, Sensorik, Wahrnehmung
sowie Reizverarbeitung und Impulskontrolle kommen unterschiedlichste
und mannigfaltigste Auffälligkeiten vor. Beispielhaft
seien einige erwähnt: durch das Vorhandensein von Hand-Mund-Fuß-Reflexen
und/oder Saug- und Suchreflexen kommt es zu Aussprachestörungen,
da Mund- und Zungenmotorik direkt verändert werden. Durch
die Auswirkungen des Mororeflexes, des tonischen Labyrinthreflexes
(TLR), ATNR und symmetrischen-tonischen Nackenreflex (STNR)
kommt es zu (wie bereits oben kurz beschrieben) erheblichen
Störungen des Gleichgewichtes. (Auch hierbei stellt sich
die Frage, warum in der Schulmedizin das Gleichgewicht eine
derart untergeordnete Stellung einnimmt. Das soll im Verlauf
noch weiter erläutert werden). Natürlich gilt für
die gerade beim Gleichgewicht genannten Reflexe auch eine
erhebliche motorische Beeinflussung.
Im Streckreflex ist eine Beugung beispielsweise der Knie
beim Treppensteigen nicht möglich, so dass bei den betroffenen
Kindern ein gehäuftes Fallen beim Treppenlauf sowie eine
auffällige Abduktion der Unterschenkel vorkommen. Weiterhin
liegen Auswirkungen auf Wahrnehmung, Reizverarbeitung und
Impulskontrolle vor, welche bereits kurz erwähnt wurden
oder sich aus dem weiteren ergeben. Durch einen persistierenden
Galantreflex lässt sich auch eine Enuresis erklären,
da durch den im Liegen ausgelösten Reflex eine spontane
Blasenentleerung bei fehlender willentlicher Hemmung vorkommt.
Die Auswirkungen der frühkindlichen Reflexe werden zwar
immer besser kompensiert (was dann gemeinhin als„ es
hat sich verwachsen“ angegeben wird), diese Kompensation
führt aber zu erheblichem Stress und letztendlich zu
mannigfaltigen Erkrankungen und Auffälligkeiten.
Die indirekten Auswirkungen der Reflexe zeigen sich aber
als noch gravierender. Vor allem über Stress, Verminderung
der Leistungsfähigkeit und des Selbstvertrauens und ü
ber Fehlbelastungen des Körpers kommt es zu mannigfaltigen
Problemen, welche heute unseren Praxisalltag mehr denn je
bestimmen. Dies auch, weil sich jeder dieser vier Faktoren
wiederum auf die anderen Faktoren auswirkt (beispielsweise
macht ein verringertes Selbstvertrauen wieder mehr Stress
und umgekehrt).
Im Bezug auf Stress ist nicht ein unspezifisches Gefühl
gemeint, welche wir in verschiedensten Ausprägungen und
Situationen empfinden und welches gerne umgangssprachlich
gebraucht wird, um bestimmte Belastungen anzuzeigen. Stress
ist die Bezeichnung für eine spezifische, durch äußere
oder innere Reize (Stressoren) hervorgerufene psychische und
physische Körperreaktion, die zur Bewältigung besonders
gesteigerter Anforderungen befähigt. In der Stressforschung
wird heute von zwei Arten von Stress ausgegangen: „Eustress“
als positive Form von Stress, der den menschlichen Körper
zu Höchstleistungen anspornt (z.B. vor Wettkämpfen,
in der letzten Lernphase vor Klausuren o.ä.). Als „Disstress“
eine als belastend/ negativ empfundene Form von Stress (bei
nicht zu bewältigenden Aufgaben, in Opfersituationen,
etc.).
Dieser Stress ist eine unkontrollierbare Stressreaktion,
und hat damit negative Auswirkungen über die in der nächsten
Graphik genannten Strukturen. Besonders über die Dendritenhemmung
und die (meist) erhöhte Cortisolausschüttung lassen
sich viele Auffälligkeiten sowie Erkrankungen erklären.
In der Stressforschung geht man von der Vorstellung weg, dass
Stress sich nur von oben nach unten, also vom zentralen Nervensystem
zum Körper verläuft. In der Stressforschung vorliegende
Forschungsergebnisse zeigen eindeutig, dass periphere körperliche
Ereignisse maßgeblich jene Gehirnanteile beeinflussen
können, welche an der psychischen Stressverarbeitung
beteiligt sind. Die älteren Theorien (nach Lazarus oder
Hobfall) weichen neueren Theorien, welche die Komplexität
und die Heterogenität der Stressentstehung berücksichtigt
und neurobiologische und psychologische Erkenntnisse berücksichtigt.
Hier sei stellvertretend die Entwicklung von „Neuropattern“
als Diagnosesystem für psychosomatische Erkrankungen
benannt. Hierbei wird versucht,ü ber Fragebögen
für Arzt und Patienten sowie einem zweitägigem Cortisoltagesprofil
(mit abendlicher Gabe von Dexamethason zur Feedbackfeststellung
der Hypophysen-Nebennierenrinde-Achse) präventive und
therapeutische Ansätze individuell für jeden Patienten
zu finden. Neuropattern sind dabei charakteristische Muster
von psychischen, biologischen und symptomatischen Veränderungen
an Schnittstellen der Kommunikation zwischen ZNS und Körperorgan
(Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrindensystem, autonomes
Nervensystem).
Der negative Stress, welcher hier gemeint ist, entsteht u.
a. durch ein schlechtes Gleichgewicht, welches in nahezu allen
Positionen des Körpers nur fehlerhaft agieren kann und
die Auswirkungen der „Reflexe“ korrigieren muss.
Einen Eindruck, wie viel Stress ein schlechtes Gleichgewicht
dem Körper macht, kann man erhalten, wenn man sich für
nur 5 Minuten mit dem Kopf nur um Zentimeter in allen Ebenen
um den eigenen Mittelpunkt bewegt. Alle Zeichen eines starken
Stresses mit Bauch-, Kopf- und Nackenschmerzen, Unruhe und
Unkonzentriertheit sind dann vorhanden.
Letztlich wird das Ganze noch über die verminderte Leistungsfähigkeit
und vermindertes Selbstbewusstsein sowie mannigfaltige andere
Gründe (siehe Graphik) verstärkt. Weiterhin entsteht
der Stress über die notwendige Umgehung eines Prinzips
der Natur: des Energiesparens. Normalerweise werden alle Bewegungen
und Handlungen letztlich auf den einfachsten und damit Energie-sparensten
Ablauf eingeübt.
Ein Prinzip, welches man sich mittlerweile im Leistungssport
zunutze macht, wenn nicht bestimmte Bewegungsabläufe
immer wieder gleich trainiert werden, sondern in einer hohen
Varianz. (differentielles Lernen nach Professor Schöllhorn).
Das Gehirn wird dann aus den gemachten Erfahrungen die bestmögliche
und für die bestimmte Person am leichtesten zu bewerkstelligende
Bewegung schaffen. Dies führt zu zum Teil erheblichen
Leistungssteigerungen und zeigt einen faszinierenden Bereich
des Gehirns.
Durch die „Reflexe“ ist ein deutlich vermehrter
Energieverbrauch erforderlich, wenn z.B. zur Stabilisierung
des Gleichgewichtes eine erhöhte Körperspannung
aufgebaut wird.
… sowie weitere (Essstörungen, Wahrnehmungsstörungen,
Autoimmunerkrankungen,
essentieller Bluthochdruck, chronische Darmerkrankungen, Schlafstörungen,…
?)
Genau dieser Stress ist auch der einzige gemeinsame Nenner
aller Auswirkungen, welche zur Zeit unter der Diagnose AD(H)S
laufen. Nicht umsonst weicht aufgrund der unterschiedlichen
Ausprägungen und Auswirkungen der Diagnosebegriff auf,
in den skandinavischen Ländern wird schon häufig
der Begriff DAMP (deficites in attention, motorik and perception)
benutzt. Aber nicht nur AD(H)S, sondern eine Vielzahl anderer
Erkrankungen lassen sich mit dem Stress oder anderen Auswirkungen
(wie oben beschrieben) erklären. In der heutigen Gesellschaft
wird der Stress auch durch viele weitere Faktoren (Reizüberflutung
durch Fernsehen, Radio, Computer; vermehrte Anforderungen
in Kindergarten, Schule und Freizeit; zunehmender Verkehr
etc.) sowie bei inadäquater Erziehung, mangelnder Förderung,
niedriger Intelligenz u. a. verstärkt.
Die Auswirkungen der Reflexe nehmen aber einen Mittelpunkt
ein, welcher in der „Fundamenttheorie“ zusammengefasst
ist. Vereinfacht kann man sich ein „Haus“ vorstellen,
bei welchem ein gutes Fundament mit unbelasteten körperlichen
(wie sie bei unseren Kindern ja meist vorliegen), gut integrierten
Reflexen, guten intellektuellen, sozialen und familiären
Voraussetzungen vorliegt. Auf diesem Fundament kann die Motorik,
Sensorik, Wahrnehmung, Reizverarbeitung und Impulskontrolle
unbeeinträchtigt arbeiten, was eine gute Alltags- und
Lebensbewältigung ermöglicht. Liegt aber, wie im
Fall von nicht gehemmten frühkindlichen Reflexen, ein
„schlechtes“ Fundament vor, so verändert
sich die Motorik, Sensorik, Wahrnehmung, Reizverarbeitung
und Impulskontrolle so, dass eine adäquate Alltags- und
Lebensbewältigung sowie Gesundheit nicht mehr möglich
ist.
Auch bei sonst guten Voraussetzungen wie z.B. Intelligenz,
adäquater Förderung und Erziehung etc. kommt es
durch die Persistenz der Reflexe zu allen vorher beschriebenen
Auffälligkeiten der Gesundheit, des Verhaltens, der Motorik
und Sensorik. Zur Anschauung kommen soll mit Hilfe der Fundamenttheorie
auch, dass die „Reflexe“ nicht für alles
ursächlich sind, ohne deren Erkennung und Bearbeitung/Integration
aber viele Ursachen von Erkrankungen und Auffälligkeiten
unerkannt bleiben und das Therapieansätze und Interventionen
ohne Reflexberücksichtigung nicht für ein ausreichendes
Fundament sorgen können.
Warum kommt es aber zu einer Zunahme der Persistenz der
frühkindlichen Reflexe? Diese Frage lässt sich nur
durch theoretische Überlegung beantworten. Da, wie bereits
oben beschrieben, der Ablauf von Reflexauftreten und Reflexhemmung
durch viele Faktoren beeinflussbar ist und durch ein mehr
oder weniger feines System aus Bewegungen, Häufigkeiten
der Auslösung sowie Phasen gekennzeichnet ist, in welchem
die Reflexe ausgelöst werden müssen, um nachfolgend
gehemmt werden zu können (sog. „sensible Fenster“),
liegt auch eine Vielzahl von Ursachen vor. Einerseits gibt
es sicherlich immer schon Ursachen, welche auch schwer beeinflussbar
sind: denkbar sind genetische Ursachen sowie Einfluss von
persistierenden Reflexen der Mutter (und Vater?) auf den Schwangerschaftsverlauf.
Bei körperlichen Störungen und Erkrankungen, bei
welchem der Bewegungsablauf gestört ist, wie dies z.B.
bei Fehlbildungen, Paresen oder Wirbelblockaden vorliegt.
Andererseits gibt aber in den vergangenen Jahrzehnten viele
Veränderungen, welche für die meiner Meinung nach
gravierende Zunahme von pathologisch nicht abgebauten Reflexen
verantwortlich sind. Zunehmende Belastungen und Stress während
der Schwangerschaft sind hier zu nennen. Kaum eine Schwangerschaft
ohne beruflichen, familiären oder sozialen Stress, häufig
auch Zimmerrenovierungen oder Umzüge. Auch Fehlbelastungen
durch häufiges Sitzen und fehlende Bewegung in unserer
Gesellschaft. Auch eine Zunahme der Sektioentbindungen mit
fehlendem Reflexablauf unter der Geburt (wobei diese Reflexauslösung
(ATNR, ATNR, TLR) ein besonderes sensibles Fenster darstellt)
ist zu benennen. Schwierig hierbei ist eine Unterscheidung
von Ursache und Folge. Ist eine Fehllage mit nachfolgend notwendiger
Sectioentbindung schon Folge eines pathologischen Reflexablaufes
oder Ursache für einen pathologischen Reflexablauf (oder
beides). Auch eine Mehrlingsschwangerschaft oder auch eine
Frühgeburt wirken sich auf den Reflexablauf aus.
Insbesondere aber die Veränderungen in der frühen
Kindheit bilden meiner Meinung nach die Ursache für die
gravierende Zunahme von pathologisch vorhandenen Reflexen.
Einerseits fand eine deutliche Abnahme der Stillhäufigkeit
statt. Dies wirkt sich z.B. darüber aus, dass beim Stillen
die Hand-Mund-Fuß-Reflexe ausgelöst werden (Händchen
und Füße bewegen sich beim Saugen an der Brust),
während dies bei Flaschenernährung nicht stattfindet
und die durch diese Bewegungen auszubildenden Nervenzellverknüpfungen
können nicht gebildet werden. Weiterhin sei auch erwähnt,
dass beim Stillen das Gesicht der Mutter in dem Bereich liegt,
in welchem das Kind am besten sehen kann.
Weiterhin ist es unter der Prämisse einer Förderung
und Beschäftigung der Kinder zu einer Flut von Reizen
gekommen, denen die Kinder fast permanent ausgesetzt sind.
Während die Kinder früher während dieser Entwicklungsphase
häufig längere Zeit alleine auf einer Unterlage
lagen und sich mit sich selbst beschäftigen konnten bzw.
mussten, dabei den Bewegungen der Finger zusahen, welche sich
vor ihren Augen drehten, liegen sie heute unter Mobiles, Trapezen,
Spieluhren, werden sie ständig herumgetragen oder in
Wippen, Schaukeln oder Ähnliches gelegt. Auch die ständige
Beschallung mit Spieluhren, Fernseher/Radio spielt eine Rolle.
Durch diese Reize abgelenkt, findet bei den Kindern das von
der Natur erworbene Programm der täglichen Bewegungen
nicht mehr statt, welche die frühkindlichen Reflexe hemmen
soll. Sicherlich wird die Verknüpfung von Nervenzellen
durch diese andere Art der Forderung und Förderung gefördert
und wirkt sich an anderer Stelle (Nervenzellverknüpfungen
in der Großhirnrinde) positiv aus, dieser positive Effekt
kann aber nicht zu Tage treten durch die negativen Auswirkungen
der frühkindlichen Reflexe. Diese bleiben bei den Kindern
in unterschiedlicher Konstellation und Stärke aktiv und
beeinflussen sowohl Motorik, Sensorik als auch Verhalten.
Durch ein Mehr an Bewegungen und Motorik im Verlauf der weiteren
Kindheit (durch Spontanmotorik, aber auch durch Frühförderung
oder Therapien) gelingt es häufig noch, die Ausprägung
der Reflexe, deren Stärke, abzuschwächen. Dieser
Umstand erklärt die verheerende Wirkung von exzessivem
Fernsehen und Computerspielen und stellt einen Teufelskreis
dar. Durch die persistierenden Reflexe ist den Kindern häufig
der Zugang zu einem freudigen, unbeschwerten Umgang mit Motorik
verbaut, sie merken sehr schnell, dass bestimmte Bewegungen
anderen Kindern viel leichter fallen.
Beim passivem Fernsehen oder Computerspiel fällt dies
nicht oder nicht sehr ins Gewicht, sodass dies bevorzugt wird
und die mobilisierbaren Abbau- und Hemmungsmechanismen nicht
aufgebaut bzw. nicht genutzt werden.
Somit stellen die frühkindlichen Reflexe eine zentrale
Rolle in der heutigen Gesellschaft dar. Durch die Forschungen
des Institutes für neurophysiologische Neuropsychologie
(INPP) in Chester, welches die Bedeutung der Reflexe, deren
Auswirkungen, deren Austestung und Behandlung/ Integration/
Hemmung erforscht, durch die Stressforschung sowie die Gehirnforschung
gelingt ein umfassendes, nachprüfbares und behandelbares
Konzept zur Verbesserung der kindlichen Gesundheit. Meiner
Meinung nach gehören Austestung und Behandlungsempfehlung
in die tägliche kinderärztliche Praxis und die Erforschung
der Ursachen und Auswirkungen bei den o.g. Erkrankungen und
Auffälligkeiten.
Durch die unwillkürlich, also willentlich nicht beeinflussbaren
sensorischen und motorischen Auswirkungen der Reflexe kommt
es zu vielen Auffälligkeiten. Diese sind sowohl im normalen
Leben, im Umgang miteinander, in der täglichen Praxis
sowie bei vielen therapeutischen Interventionen zu sehen und
bekannt. Gerade in der Ergotherapie, hier v.a. in der sensorischen
Integrationstherapie, sind viele Punkte wie verminderte propriozeptive
Wahrnehmung, fehlende Mittellinienüberkreuzung oder Wahrnehmungsstörungen
(auditiv u./o. visuell) bekannt, werden aufgedeckt und beschrieben,
ohne aber die Ursache zu kennen. Im normalen Leben fällt
häufig eine motorische Ungeschicklichkeit, innere Unruhe,
inadäquate Verhaltensweisen oder hyperaktives Verhalten
auf. Dabei findet man Hinweise auf persistierende frühkindliche
Reflexe auf vielfältige Weise, ohne die Kinder speziell
testen zu müssen: bewegt das Kind beim Gehen oder Rennen
die Arme nicht gleichförmig, vermeidet es beim Handgeben
die Mittellinie zu überkreuzen, ist der Händedruck
zu lasch oder wird der Daumen dabei mit in die Hand gelegt,
arbeitet die Zunge bei vielen Bewegungen mit, bestehen Auffälligkeiten
in der Sitzposition, der Stifthaltung usw. usf..
Zur Austestung und zur Einordnung, ob persistierende Reflexe
vorliegen und auch in welcher Ausprägung, sollte im Rahmen
von Vorsorgeuntersuchung und bei neuropädiatrischen Abklärungen
folgende Übungen gemacht werden:
Zur Testung des Gleichgewichtes der Romberg –Test (aufrechtstehendes
Kind mit zusammengestellten Füssen, locker hängenden
Armen und geradeaus gerichteten Augen) mit geöffneten
und geschlossenen Augen, Einbeinstand bds. (mit frei schwebenden
gehobenem Bein) sowie ein Liniengang mit a) leicht gebeugten
Knien und b) mit stark gebeugten Knien (Storchengang) vorwärts
und rückwärts. Bei diesen Übungen muss auf
Schwankungen, Körperspannung und auf Zehenverkrampfungen
geachtet werden.
Zur Überprüfung des ATNR sollte die Mittellinienüberkreuzung
bei aufrecht stehendem Kind mit zusammengestellten Beinen
getestet werden mit a) einseitig 90° gebeugten Ellenbogen,
wobei in dieser Hand ein Ball liegt, welcher in die locker
herunterhängende andere Hand diesen Ball legen soll,
ohne die herunterhängende Hand zu bewegen, und b) eine
Hand das Ohrläppchen der anderen Seite anfassen soll
(bei kleinen Kindern von unten, bei Größerenüber
Kopf).
Weiterhin bei gleichem Stand soll der Prüfling die Arme
auf Schulterhöhe ausstrecken mit locker hängenden
Handgelenken. Unter der Anweisung, den Kopf entspannt zu lassen
und die Arme in der nach vorne ausgestreckten Haltung zu belassen,
wird der Kopf passiv langsam in beide Richtungen gedreht und
dabei auf die Mitbewegungen der Arme geachtet. Der STNR kann
mit Hilfe des Gangs auf den lateralen Fußkanten getestet
werde. Bei Persistieren des STNR kann der Prüfling die
Knie nicht beugen, die Fußstellung ist
auffällig und v.a. die Arme nehmen eine verkrampfte Haltung
an.
Die weiteren Testungen sowie genauere Informationen zum Testablauf
sowie die Beschreibungen, warum ein Kind diese oder jene Auffälligkeiten
zeigt, sind in dem Buch: „Greifen und Begreifen“
von Sally Goddard Blythe (erschienen im VAK-Verlag) nachzulesen.
Weiterhin besteht die Möglichkeit, an einer 2-tägigen
Fortbildung teilzunehmen, welche von einzelnen INPP-Therapeuten
angeboten wird. Dort werden die Grundbegriffe erklärt
sowie die Übungen zur Austestung und zur Gruppenbehandlung
(s.u.) erlernt.
Dieses Programm, bei welchem die Testung des Mororeflexes
meiner Meinung nach unterbleiben sollte, ermöglicht eine
Einordnung der Stärke der bestehenden Reflexe, keinesfalls
sollte eine etwaige Behandlung auf dem Boden einer derartigen
Austestung erfolgen. Zur Behandlungsindikation und Einleitung
ist einen Austestung bei einer/einem neurophysiologischen
Entwicklungsförderer/ in erforderlich.
Die ursächliche Behandlung erstreckt sich auf folgende
Möglichkeiten:
1. ein für Kindergarten und Schule ausgearbeitetes allgemeines
Übungsprogramm und
2. eine individuelle Einzeltherapie bei einem ausgebildeten
Neurophysiologischen Entwicklungsförderer.
Das 1. Übungsprogramm besticht durch mehrere Punkte:
die Einfachheit der Erlernbarkeit (bei medizinischen oder
pädagogischen Vorkenntnissen) im Rahmen eines zweitägigen
Kurses, bei welchem neben den Übungen auch die anatomischen,
neurophysiologischen Grundlagen besprochen werden. Weiterhin
ist das erlernte Übungsprogramm, welches im Kindergarten
oder in der Schule ohne weitere Übungsmittel geführt
werden kann, gut in den Alltag durch die Dauer von ca. 15
min. täglich zu integrieren. Und letztlich auch, weil
alle
Kinder von dieser „Beturnung“ profitieren: Die
Kinder, welche keine oder nur minimal persistierende Reflexe
haben, profitieren von der Bewegung im Allgemeinen und einer
besseren Gesamtbeweglichkeit; bei Kindern, welche leicht bis
mittelstark mit persistierenden Reflexen zu tun haben, kann
ein fast vollständiger Abbau dieser Reflexe erreicht
werden, und die Kinder, welche stark oder sehr stark unter
diesen Reflexen leiden, können erkannt und einer Einzeltherapie
zugeführt werden (siehe Tabelle 2).
Die Einzeltherapie (2.) ist auf 12 bis 18 Monate ausgelegt
und ab einem Alter von ca. 5 Jahren möglich. Nach ausführlicher
Anamnese und Austestung des Kindes werden die persistierenden
Reflexe erkannt und nach Schwere und Auswirkung gewichtet.
Das daraufhin individuell an das Kind angepasste Übungsprogramm
muss (nach Anleitung) 3 bis 10 Minuten täglich zu Hause
durchgeführt werden und zeitnah der Verlauf kontrolliert
und die Übungen angepasst werden. Hierbei findet sich
in den Übungen häufig der Bewegungsablauf der Reflexe
wieder, welche mit taktilen und Sprachreizen verknüpft
werden. Insbesondere die Tatsache, dass dieses Übungsprogramm
täglich ausgeführt werden muss, berücksichtigt
die Erkenntnis, dass Lernen über tägliche Reize
erfolgt.
Die Therapeuten, welche im Rahmen einer einjährigen
Ausbildung zur neurophysiologischen Entwicklungsförderer/in
ausgebildet wurden, müssen auch in der Lage sein, andere
Erkrankungen und Auffälligkeiten zu erkennen. Daher ist
vor dieser Ausbildung ein erlernter medizinischer oder pädagogischer
Beruf erforderlich. Leider ist die Zahl der neurophysiologischen
Entwicklungsförderer/innen sehr begrenzt. Hier muss viel
nachgeholt werden und über Wege nachgedacht werden, je
nach Ausbildungsstand und Vorkenntnissen spezielle Ausbildungszeiten
und Wege zu gehen.
Aus den hier gemachten Äußerungen ergibt sich
folgendes Fazit:
> |
Die bislang in der Medizin und Pädagogik
nicht untersuchten/bedachten fehlerhaft persistierenden
frühkindlichen Reflexe sind Ursache für die
zunehmenden motorischen, sensorischen, schulischen und
sozialen Auffälligkeiten von Kindern und auch bei
verschiedenen körperlichen und gesundheitlichen Störungen
und Auffälligkeiten ein ursächlicher und /oder
verstärkender Faktor. |
> |
Die bislang in der Medizin und Pädagogik
nicht untersuchten/bedachten fehlerhaft persistierenden
frühkindlichen Reflexe sind Ursache für die
zunehmenden motorischen, sensorischen, schulischen und
sozialen Auffälligkeiten von Kindern und auch bei
verschiedenen körperlichen und gesundheitlichen Störungen
und Auffälligkeiten ein ursächlicher und /oder
verstärkender Faktor. |
> |
Die Bedeutung der frühkindlichen Reflexe
und deren Auswirkungen müssen schnellstmöglich
im medizinischen und pädagogischen Bereich bekannt
gemacht werden und über kurz oder lang der Bevölkerung
zugänglich gemacht werden. |
> |
Die diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten
müssen ausgebaut werden. Dies bezieht sich v.a. auf
die Diagnostik und Therapie auch bei Kleinkindern, für
die bislang keine Bearbeitungsmodelle erarbeitet werden
konnten (Ansätze finden sich bereits in der„Primaristik“,
einem speziellen, krankengymnastischem Übungsprogramm.
Weiterhin sind einige Aspekte der Austestung und Behandlung
schon in anderen Therapien vorhanden (Vojtagymnastik,
Ergotherapie nach Jean-Ayres, sensorische Integration
etc.). Bei Nutzung der gesamten Ressourcen, hier v.a.
die vielen gut ausgebildeten Physiotherapeuten, Ergotherapeuten,
Fachkräften aus der Frühförderung, Pädagogen,
Ärzten und weiteren, sollte ein solches Modell erarbeitet
werden können. |
> |
Die Ursachen für das vermehrte Auftreten
von nicht abgebauten frühkindlichen Reflexen müssen
bestätigt oder erforscht werden (interkulturelle
und intersoziale Vergleiche, Einbeziehung von Erkenntnissen
aus dem Tierreich (z.B. Wirkung der Dualaktivierung bei
Pferden)). |
> |
Die Ursachen müssen durch ein Umdenken
in Schwangerschaft, Geburt und im Handling und Pflege
von Säuglingen und Kleinkindern minimiert werden.
Dies muss auf breiter Basis erfolgen und sich von früher
Schwangerschaft über Geburt und Kindheit erstrecken.
Hier gilt in vieler Hinsicht der Leitsatz „zurück
zur Natur“. |
> |
Die Überprüfung der frühkindlichen
Reflexe muss bei vielen körperlichen, seelischen
und sozialen Auffälligkeiten erfolgen. Hier sei aber
an erster Stelle das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom erwähnt.
|
> |
Erfahrungen mit der Behandlung und deren
Auswirkungen müssen empirisch erfasst und ausgewertet
werden. |
> |
Die Vernetzung von vorbestehenden, parallel laufenden
und/oder nachgeschalteten Therapien muss gewährleistet
werden. |
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die fehlerhaft
persistierenden frühkindlichen Reflexe eine zentrale
Bedeutung bei einer Vielzahl von Erkrankungen, Verhaltensauffälligkeiten
und familiären, sozialen und (vor-) schulischen Problemen
darstellen. Dies erklärt sich einerseits durch die direkten
Auswirkungen auf Motorik, Sensorik, Wahrnehmung, Reizverarbeitung
und Impulskontrolle, andererseits durch die indirekten Auswirkungen
wie Stress, Minderung des Selbstvertrauens und der Leistungsfähigkeit
sowie Fehlbelastungen erklären.
Wahrscheinlich ist die Zunahme an den persistierenden Reflexen
durch eine Vielzahl von gesellschaftlichen Veränderungen
zu erklären, welche einen adäquaten Abbau und Hemmung
der frühkindlichen Reflexe nicht mehr ermöglichen.
Mannigfaltige Anstrengungen auf allen Ebenen sind erforderlich,
um diese Auswirkungen zu minimieren, um die Entwicklung hin
zu gesünderen, unauffälligeren Kindern zu gewährleisten.
© Dr. Carsten Queißer
|