Ein Drittel englischer
Grundschüler nicht schulreif
von Sally Goddard Blythe (Übersetzung von
Anja van Velzen)
Die Fachzeitschrift Child Care in Practice veröffentlichte
in ihrer Ausgabe von Oktober 2005 die Ergebnisse mehrerer
Untersuchungen bei Kindern in England und Irland.
440 Kinder im Alter zwischen 7 und 9 Jahren und 330 Kinder
im Alter zwischen 5 und 6 Jahren wurden auf Gleichgewichts-
und Koordinationsfunktionen und die Abwesenheit unreifer Reflexreaktionen
getestet.
Ergebnis: 48 % der 5-6 Jährigen und 35 % der 7-9 Jährigen
zeigten unreife Reflexreaktionen, verbunden mit Gleichgewichts-
und Koordinationsstörungen.
Der körperliche Entwicklungsstand der Vorschüler
wurde weiter verglichen mit ihren Lernfortschritten im Laufe
eines Schuljahres.
Dabei zeigte die Gruppe der Vorschüler mit den beschriebenen
Auffälligkeiten deutlich schlechtere Leistungsergebnisse
als die gleichaltrige Kontrollgruppe.
Die 7-9 Jährigen wurden in drei Untersuchungsgruppen
geteilt. Die Kinder der ersten Gruppe absolvierte täglich
ein spezifisches Übungsprogramm zur Entwicklungsförderung,
das am Institute for Neurophysiological Psychology INPP in
den 80ger Jahren entwickelt und sehr erfolgreich auch an deutschen
und österreichischen Schulen unterrichtet wird.
Die eine Kontrollgruppe bekam täglich unspezifische
Bewegungsaufgaben, die andere erhielt kein körperliches
Training.
Nach einem Schuljahr wiesen die Kinder der ersten Gruppe
verglichen mit beiden Kontrollgruppen sowohl statistisch signifikante
Fortschritte im Bereich Gleichgewicht und Koordination, als
auch beim Lesen, Buchstabieren und dem Verstehen nonverbaler
Kommunikation auf.
Die größere Reife zeigte sich bei diesen
Kindern also nicht nur in Leistungssteigerung, sondern auch
in größerer Anpassungsbereitschaft und sozialer
und kommunikativer Kompetenz im Unterricht und auf dem Schulhof.
„In jeder Klasse gibt es Kinder, die nicht auf Sendung
zu sein scheinen. Sie gucken den größten Teil des
Schultages vor sich hin oder tanzen nach einer nur für
sie hörbaren Musik. Als Lehrer weiß man um ihre
verborgenen Talente, die aber zumeist nicht sichtbar sind…“
Die Reaktionen dieser Kinder auf das Übungsprogramm
sind aufsehenerregend! Wenn man sie dabei beobachtet, hat
man das Gefühl, dass sie als Babys nur sehr dürftige
Bewegungserfahrungen auf dem Boden gemacht haben können,
speziell in Bauchlage! Bei einer der Übungen –
„die Raupe“ – hört man unter Hecheln
und Schnaufen Kommentare wie: „Oh Mann, müssen
wir das machen? Das ist so anstrengend!“, während
die Köpfe mühsam in die erforderliche Position gehoben
werden. Diese Kinder haben erstaunlich wenig Kontrolle über
Kopf und Nacken und verhalten sich motorisch eher wie Neugeborene,
nicht wie 7 oder 8 Jährige“, sagt Sarah Bertram,
eine am INPP-Programm teilnehmende Lehrerin der Prince Albert
School in Birmingham.
Fazit: Ein Drittel englischer Kinder im Vor- und Grundschulalter
verfügt nicht mehr über die körperlichen Voraussetzungen
für altersgemäße schulische und soziale Leistungen.
Bei den europäischen Nachbarn Deutschland und Österreich
wird das nicht viel anders aussehen.
Auch bei uns wurde die Bedeutung des motorischen und sensorischen
Entwicklungsstandes des Schulkinds in den letzten Jahren zunehmend
aus den Augen verloren.
Die Lesefähigkeit z.B. ist unmittelbar abhängig
von gut kontrollierten und fein abgestimmten Augenbewegungen
– eine motorische Fähigkeit. Schreiben
erfordert gute Koordination von Auge und Hand; Sitzhaltung,
Aufmerksamkeit, Konzentration und Ausdauer sind Ausdruck motorischer
und sensorischer Funktionen und eines gut entwickelten Gleichgewichtssystems
– letztlich der Reife des Zentralen Nervensystems.
Kinder mit körperlichen Unreifen können ihre kognitiven
Fähigkeiten und ihre individuellen Begabungen im Unterricht
nur schwer zeigen und umsetzen, sie bleiben hinter altersentsprechenden
Erwartungen zurück und funktionieren auf einem niedrigeren
Niveau als Gleichaltrige.
Die Ergebnisse der englischen Studie werfen eine Reihe von
Fragen auf, die sich sowohl Pädagogen als auch Politiker
und Mediziner stellen (lassen) müssen:
- Standardisierte Schuleingangstests, die Gleichgewicht,
Koordination, motorische und sensorische Reife überprüfen,
wieder obligatorische Voraussetzung für die Einschulung?
- Spezifische Übungsprogramme zur kindlichen
Entwicklungsförderung für jedes Kind an jeder
Grundschule?
- Wie müssen sich die Lebensbedingungen von
Kindern ändern, damit sie als Klein- und Vorschulkinder
ihr Potential an geistiger, seelischer und körperlicher
Entwicklung entfalten können, um es dann im schulischen
Rahmen zur vollen Verfügung zu haben?
Die Autorin: Sally Goddard Blythe ist Autorin mehrerer Bücher,
unter anderem: Greifen und Begreifen, 4. Auflage 2005 im VAK;
Warum Ihr Kind Bewegung braucht, 1. Auflage 2005 im VAK. In
ihrem Lehr- und Forschungsinstitut in Chester (www.inpp.org.uk)
entwickelte sie auch das INPP-Übungsprogramm zur Entwicklungsförderung
für Schulen und Kindergärten.
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